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Container-City

Medien, Wirtschaft und Kunst im Lingener Industrieensemble 'EAW'

Nachdem die Sanierung der Außenhaut abgeschlossen war, konnte Ende der 90er Jahre endlich auch mit dem Ausbau der alten Eisenbahnhallen in Lingen begonnen werden. Unter dem Motto Medien, Wirtschaft und Kunst begann der Architekt Heinrich Eustrup seine Vision von der 'Stadt unter Dach' in die Tat umzusetzen - musste allerdings auch spanerse Abstriche in Kauf nehmen.

Als die hannoversche Staatsbahn 1856 für ihre 'Westbahn' eine Eisenbahnhauptwerkstätte in Lingen eröffnete, war den Bürgern der Stadt wohl noch nicht klar, inwieweit dieser Industriebetrieb das Leben in der damals 4500-Einwohner-Stadt verändern sollte. 1919 erreichte der Personalbestand mit 2287 Mitarbeitern seinen absoluten Spitzenwert, so dass im Endeffekt jeder dritte Lingener vom Werk lebte.
Während dieser Zeit kam es demzufolge zum kontinuierlichen Ausbau der Werkanlagen. Die gewaltigsten Ausdehnungen erfuhren die Werkstätten 1908 mit dem Bau der 5.000 m² großen 'Lokhalle 4' und knapp zehn Jahre später mit der 11.000 m² großen 'Lokhalle 1 & 2'. Sie entstand als Ersatz für die Halle 4 unter den schwierigen Bedingungen des ersten Weltkrieges, da diese wegen des hohen Aufkommens an beschädigten Fahrzeugen bereits zu klein geworden war.

Vorhandene Bausubstanz

Bei der Halle 4 handelt es sich um eine vierschiffige Halle mit einer Länge von 90 Metern und einer Breite von etwa 60 Metern. Zwei der Hallenschiffe stehen zurückgesetzt. Der Bau verfügt über ein freitragendes Dach in Stahlkonstruktion. Sichtmauerwerk bildet die Außenhaut. Die acht Giebelseiten wurden mit Rundbogenfriesen und eingefügten Putzflächen reich gestaltet. Die vertikale Gliederung wird von gestaffelten Mauerwerkspfeilern übernommen. Derartige Pfeilerreihen ziehen sich ebenso um das gesamte Gebäude und betonen seine Höhe. Auch die Putzflächen setzen sich hier fort. Die Belichtung erfolgt im Wesentlichen durch auf gesamter Länge aufgesetzte Oberlichter und hohe Stahlrahmenfenster auf allen Seiten.
Demgegenüber stellt sich die Halle 1 & 2 ganz anders dar: Eine 200 Meter lange und 55 Meter breite Stahlskelettkonstruktion mit Ziegelausfachung, die sich in ihrer völlig schmucklosen Erscheinungsform deutlich der neuen Sachlichkeit verschrieben hat und so einen starken Kontrast zur vorhergehenden Halle darstellt. Auch dieser Bau hat ein freitragendes Dach mit Spannweiten von bis zu 20 Metern. 16 senkrecht zum First verlaufende Oberlichtbänder bestimmen die äußere Erscheinung. Überhaupt ist die nicht vorhandene Symmetrie und der sehr hohe Glasanteil an dieser noch heute modernen Halle auffällig.

Architekturverständnis

Die Besonderheit der beiden Hallen liegt nicht so sehr in ihren Eigenarten, sie entsteht vielmehr durch die Nachbarschaft zueinander. Überdeutlich ist zu sehen, wie sich die Architekturauffassung der Industriebauten innerhalb von nur sechs Jahren vollkommen gewandelt hat.

Als drittes Objekt ist der ehemalige Werkwasserturm zu nennen. Ein harmonisch proportionierter Ziegelbau mit stählernem Tankaufsatz von 300 m³ Fassungsvermögen, um den sich ein Wartungssteg zieht. Zwei Gesimsbänder in Geschosshöhe gliedern den Unterbau, der von acht Fensterachsen mit Rundbögen gleichmäßig belichtet wird. Objektiv gesehen, eine typische Industriebauform aus dem Jahr 1916, die auch andernorts standardmäßig entstand, jedoch mit ihren maßvollen 19 Metern Höhe einen reizvollen Akzent von städtebaulichem Wert in ihrer Umgebung setzt.

Nachdem die Stillegung des Lingener Eisenbahnausbesserungswerkes 1985 besiegelt war, stand die Stadtverwaltung vor dem Problem, dass sich hier ein insgesamt rund 5,5 ha großes Gebiet in unmittelbarer Stadtkernnähe urplötzlich in eine Brache verwandelt hatte. In den folgenden Jahren erwarb die Verwaltung das Gelände in Teilen von 17.000 m² Größe und verfuhr mit den darauf stehenden Bauten leider nicht immer zimperlich. Acht Gebäude wurden abgerissen, übrig blieben unter anderem die ehemalige Lokhalle 4, die Halle 1 & 2 und der Wasserturm.

Intensive Investitionen

In diese Bauten wurde dann allerdings intensiv investiert: Unter dem Motto 'Medien, Wirtschaft und Kunst unter einem Dach' wurde in der Halle 4 ab 1992 eine grundlegende Erneuerung vorgenommen: Die komplette Außenhaut des Gebäudes wurde gereinigt. In großen Bereichen mussten schadhafte Ziegel herausgenommen und durch neue ersetzt werden. Putzflächen wurden entfernt und neu erstellt. Alte Fenster mussten aufgrund zu starker Beschädigung durch neue, baugleiche ersetzt werden. Das gesamte Stahltragwerk wurde demontiert, neu beschichtet und nach altem Vorbild wieder aufgestellt. Die hölzerne Dachschalung wurde entfernt und durch Trapezbleche ersetzt. Die Oberlichter entstanden nach altem Muster neu und wurden mit opaker Doppelverglasung versehen. Eingebaute Büros und riesige Trennwände verschwanden, Pflasterungen wurden vollständig entfernt.
Auf diese Weise entstand eine riesige Freifläche, auf der sich der Architekt Heinrich Eustrup vom Braunschweiger Büro rde, dessen Entwurf beim Wettbewerb 1992 den ersten Preis gewann, völlig entfalten konnte.
Sein Entwurf zeichnete sich durch einen sehr sensiblen Umgang mit der Bausubstanz aus. Die Außenhaut der Halle erfuhr, abgesehen von den Sanierungsmaßnahmen keine weitere Veränderung.
Das Konzept des Planers sah eine 'Stadt unter Dach' vor, deren Straßenachsen sich ganz nach der vorgefundenen, klaren Hallenstruktur richten. Großzügige, vier Meter breite 'Verkehrswege' verlaufen durch die gesamte Halle unter den Oberlichtfirsten und erfahren hierdurch eine ausgezeichnete, weiche Belichtung.

Zu zwei, je sieben Meter breiten Korridoren, die die Halle von den Längsseiten her erschließen, errichtete man Trennschotts in voller Raumhöhe. Diese wurden durch einen hohen Glasanteil aufgelöst, so dass der Raumfluss der Flure ungestört bleibt.
Büroeinbauten entstanden nach dem Containerprinzip in zweigeschossiger Bauweise, wobei die Obergeschosse durch eine Vielzahl von Stegen und Treppen unterschiedlicher Bauweise erschlossen werden, die in Anlehnung an die industrielle Vergangenheit aus Stahlelementen sowie vorkorrodiertem Tränenblech bestehen.
Die Container wurden bis in drei Meter Höhe mit Birkenholzpaneelen verkleidet und im oberen Bereich weiß verputzt. Trotz der, durch die Containerbauweise erreichten Entkopplung der Einbauten von der Halle, wurden diese an den Stirnseiten dennoch mit der Gebäudehülle verbunden, was aus bauphysikalischen Gründen zu Problemen führt.
Dennoch wurde mit dem zur Ausführung gekommenen Konzept eine wirklich reizvolle Raumwirkung erzielt. 'Vielfältige Blickbezüge zwischen Straßen, Brücken und Plätzen evozieren ein differenziertes räumliches Geflecht einer Stadt unter Dach', beurteilt der Planer Heinrich Eustrup heute sein Konzept.
In anderen Teilbereichen wurde das historische Mauerwerk freigelegt. Aufgrund allzu starker Beschädigungen konnte dieses Verfahren jedoch nicht überall angewendet werden, so dass viele Bereiche verputzt wurden.

Insgesamt gesehen sind es aber gerade diese klaren Gegensätze von Alt und Neu, sparsam eingesetzte architektonische Mittel, schlichter, transparent beschichteter Zementestrich, herausgestelltes Tragwerk, konsequente Treppenführung, auch direkt hinter Fenstern, an den Fenstern ablesbare Geschosshöhen und Verschraubungen der Holzverkleidung, die in der Lingener Halle 4 für eine so spannungsvolle und dennoch harmonische Atmosphäre sorgen, die Eustrup mit den Worten 'Schönheit der Armut' beschreibt, wenngleich er für ihn unbefriedigende Details einräumt. So hätte der Architekt statt des vorgefundenen Trapezblechdaches lieber ein von innen sichtbares Holzdach gesehen.
Als negativ ist das Fehlen eines kommunikativen Zentrums zu bewerten. Das Eckcafé erfüllt diesen Zweck aufgrund seiner Randlage zum nur sporadisch genutzten Ausstellungsbereich nicht zufriedenstellend. Auch bei der Ausführung von Linoleumarbeiten in diversen Büroräumen und bei Maurerarbeiten kam es vereinzelt zu unschönen Details, die Eustrup jedoch in Kauf nehmen musste, da der finanzielle Rahmen des Projektes nur weniger leistungsstarke Firmen zuließ.

Neues Leben in alten Mauern

Die alte Eisenbahnhalle 4 mit dem ungewöhnlichen Nutzungskonzept erfreut sich heute in der 60.000-Einwohnerstadt Lingen großer Beliebtheit. Eigentlich fehlt nur noch eine direkte Anbindung an die Innenstadt, die mittels einer Brücke über die benachbarten, derzeit noch als Barriere wirkende Bahntrasse, hergestellt werden soll.

Nicht zuletzt ist es der hohe Identifikationswert der Halle 4, der viele heutige Nutzer dazu bewog, ihre Firmen in die Halle zu verlegen, in der es inzwischen zu einer bunten Mischung der verschiedensten Branchen gekommen ist. Aufgrund der Durchmischung von ganz gewöhnlichen Büroarbeitsplätzen mit kulturellen Einrichtungen wie Fachhochschule, Radiosender und Kunsthalle erwartet Eustrup ein synergievolles, anregendes Miteinander von Arbeitswelt und kulturellem Geschehen, in das seit kurzer Zeit nun auch der Wasserturm in unmittelbarer Nähe der Halle 4 einbezogen ist. Er wird als Ergänzung der 'Kunsthalle' in der Halle 4 als Ausstellungsraum genutzt.

Ärgerliche Details

Die Instandsetzung des Wasserturms, für die Eustrup jedoch nicht verantwortlich zeichnet, gibt etwas weniger Anlass zur Zufriedenheit. Bereits die Mauerwerkssanierung des Wasserturmes brachte aufgrund handwerklicher Defizite ärgerliche Details mit sich, die eigentlich vermeidbar gewesen wären.
Wesentlich besser gelang allerdings die Rekonstruktion der historischen Fenster sowie die des stählernen Wartungssteges um den Wasserbehälter, der mittels Sandstrahl gereinigt und anschließend neu beschichtet wurde.

Das Dach schließlich erfuhr eine völlige Erneuerung: Die Bitumenbeschichtung auf Holzschalung ersetzte man durch einen Zinkblechbelag, der dem Bauwerk nicht unbedingt gerecht wird. Noch weit unbefriedigender ist jedoch die Rekonstruktion des auf dem Dach befindlichen Lüftungsaufbaues, der seinem Vorbild nur noch bedingt ähnelt und plump und unproportioniert wirkt, was gerade bei diesem, quasi als 'Krone' fungierenden Bauteil stört. Unbefriedigende Ergebnisse auch im Innenbereich: Einfach weiß übergepinselte Stahlträger an der Decke und ähnliche Details erwecken den Eindruck, dass hier ein durchaus gelungenes Konzept nur halbherzig umgesetzt wurde.

Weitere Aussichten

Während die Sanierungsarbeiten an Turm und Halle 4 heute beendet sind, stellt sich für die Lingener Stadtverwaltung nun die schwierige Frage, was mit der benachbarten denkmalgeschützten Halle 1 & 2 zu geschehen hat, die sich im Besitz der Deutschen Bahn AG befindet. Dies ist um so schwieriger, da das Nutzungskonzept einer solch zentrumsnahen Fläche von 11.000 m² Größe natürlich starke Auswirkungen auf den Innenstadtbereich haben wird. So ist bei einer Nutzung im Einzelhandelsbereich längerfristig möglicherweise mit einem Abzug der Kaufkraft aus den Kerngebieten der Stadt zu rechnen, wobei es jedoch gerade eine solche Nutzung ist, die der Deutschen Bahn AG vorschwebt. Dies ist um so ärgerlicher, da von der Bahn, die nicht unbedingt als sonderlich kooperativer Verhandlungspartner bekannt ist, bei fehlender Zustimmung seitens des Stadtrates das gefürchtete 'Stillstandsmanagement' droht, unter dessen Wirken schon andere Bauten zu leiden hatten. Es bleibt also zu hoffen, dass bei den zukünftig anstehenden Planungen rund um die Halle 1 & 2 ein Kompromiss erzielt wird, der als Ergänzung zum Stadtkern wirksam werden kann und nicht in Konkurrenz zu ihm steht.

Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees

Bauzeit:
Abschnittweise von 10/96 bis 5/99
Baukosten (brutto):
Erneuerung der äußeren Hülle etwa 7 Mio. DM
Bauherr:
Stadt Lingen
Architekt:
Heinrich Eustrup rde Rohling Diekmann Eustrup, Braunschweig
Mitarbeit:
M Rohling, A. K. Jandt, H. Eustrup
Bauleitung:
Hoffmann + Rolfes, Lingen;
Fa. Kampmann, Lingen
Tragwerksplanung:
Ing. Büro Beckmann, Lingen
Heizung, Lüftung, Sanitär:
Ing. Büro Beushausen, Lingen
Elektrotechnik:
Ing. Büro Mammen & Partner, Schüttorf