Erst 1996 verschwanden endgültig die letzten Angestellten der Deutschen Bahn aus den alten Hallen des Ausbesserungswerkes Lingen.
Bis zu diesem Zeitpunkt wurden nur noch einzelne Bereiche der verbliebenen Werkbauten zur Instandhaltung von Feuerlöschern, Zug-Schlussleuchten, zur Stempelherstellung und der Wartung ähnlicher Gegenstände genutzt.
Die große Zeit der Dampflok-Ära war längst Geschichte - eine Geschichte, die vor über 160 Jahren begann.
Am 23.06.1856 wurde die 'Hannoversche Westbahn' mit der Verbindung Löhne-Osnabrück-Rheine-Lingen-Emden in Betrieb genommen. Im beschaulichen emsländischen Lingen entstanden nach zweijähriger Bauzeit die 'Königlichen Bahnhofswerkstätten' zur Aufarbeitung schadhafter Fahrzeuge.
Der neue Arbeitgeber brachte es bereits in seinem ersten Betriebsjahr auf einen Personalbestand von 116 Beschäftigten. Dies war zu jener Zeit im Emsland ein bedeutender Wirtschaftsfaktor, der zudem ein großes Wachstumspotential zu haben schien, was sich in den Folgejahren bestätigte, als der Bestand tatsächlich stetig anstieg. Im Jahre 1919 erreichte er seinen absoluten Spitzenwert von 2.287 Mitarbeitern.
Die ersten baulichen Anlagen - so auch die Dreherei und Kupferschmiede - wurden in U-Formation errichtet. Diese Form ergab sich aus der zentralen Lage des Kraftwerkes, in dem mittels Dampfmaschine eine Welle angetrieben wurde, die ihre Kraft auf die weiteren Maschinen durch Transmissionsriemen übertrug, welche beiderseitig entlang dieser Welle angeordnet waren.
Im südlichen Seitenflügel dieses Komplexes richtete man die Wagenhalle ein, gegenüber im nördlichen Flügel die Lokomotivhalle. In einem zentralen Gebäude fanden Schmiede und Schlosserei ihren Platz.
Welch geringe Dimension diese Hallen, wie auch das gesamte Werk zu jener Zeit hatten, wird deutlich, wenn man sich vorstellt, dass die bis heute erhaltenen Bauten von Schmiede und Betriebsschlosserei wesentliche Teile dieser ursprünglichen Werkanlagen sind. Ihre Erscheinungsform hat sich, besonders im Dachbereich, seitdem zwar verändert. Jedoch handelt es sich im Wesentlichen um die historische Bausubstanz aus der Gründungszeit des Lingener Eisenbahnwerkes.
Durch die Verwicklungen des Preußisch-Österreichischen Krieges im Jahr 1866 geriet die Hauptwerkstätte Lingen in den Machtbereich Preußens und ihr Name wurde daraufhin in 'Königlich Preußische Eisenbahnhauptwerkstätte Lingen (Ems)' geändert.
Die Folgezeit kann als die Aufbauphase des Werkes betrachtet werden: 1870 entstand eine wesentlich größere Wagenhalle südlich der vorhandenen Bauten und 1875 eine neue Lokomotivhalle, die etwa an jener Stelle endete, an der sich heute die nördliche Giebelwand der Halle 1 & 2 befindet. Neben diesen Anlagen wiederum entstand 1878 ein großzügiger Ringlokschuppen mit 16 Stellplätzen.
Im Jahre 1880 wurde im Werk die Ausbildung von Lehrlingen aufgenommen, um den Nachwuchs an Fachkräften in der ansonsten vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Umgebung zu sichern. Die dafür notwendigen Räume richtete man im Mitteltrakt des U-förmigen Gebäudeteils ein.
Vier Jahre später entstand das bemerkenswerte Gebäude des 'Magazins', also des damaligen Lagerhauses, welches viele Jahre später zum Waschhaus umgewidmet wurde und erst im März 1992 zusammen mit dem Verwaltungsgebäude nach einer Standzeit von 108 Jahren ein schmähliches Ende fand.
1897 erhielt das Eisenbahnwerk Lingen eine eigene Kesselschmiede, die entlang der damals noch schmalen und stillen Kaiserstrasse entstand. Dieses Gebäude wurde 1919 durch zwei seitliche Anbauten erweitert und auch in der Länge erheblich vergrößert.
Nach Auflösung dieser Kesselabteilung im Jahr 1957 nutzte man die Kesselschmiede für andere Fertigungsbereiche und vermietete es später an Fremdfirmen zu Lagerzwecken.
Im Mai 1989 wurde die Kesselschmiede an der Kaiserstraße nach 92 Jahren Standzeit abgerissen.
Die 1875 gebaute Lokomotivhalle wurde im Zuge des wachsenden Verkehrs schnell zu klein für den stetig wachsenden Bestand an Schadfahrzeugen und so musste 1908 für Platz gesorgt werden. Die sogenannte 'Neue Bude' entstand und machte die damals 33 Jahre alte Lokomotivhalle zur 'Alten Bude'. Diese neue Halle wandelte sich später zum Hauptlager für Tauschteile und ist heute unter der Bezeichnung 'Halle 4' oder auch 'Halle IV' bekannt.
In dem selben Jahr wurde aufgrund des wachsenden Energiebedarfs direkt an der Kaiserstraße ein neues Kraftwerk errichtet, welches den gesamten Betrieb mit Dampf und Elektrizität versorgte, während die Stadt Lingen erst 17 Jahre später an das öffentliche Stromnetz angeschlossen wurde. Diese Selbstversorgung des Ausbesserungswerkes mit Strom wurde erst zu Beginn der 1960er Jahre vollständig eingestellt.
Am 25.08.1910 entstand zur Entlastung des bestehenden Werkes an der Kaiserstraße auf einem einige hundert Meter südlich gelegenen Gelände, an der gegenüberliegenden Seite der Bahnlinie, das Wagenwerk.
Beide Werkteile erhielten daraufhin eine eigene Bezeichnung. Das 'Werkstättenamt A' für die Unterhaltung der Lokomotiven und das 'Werkstättenamt B' für die Wagenreparatur.
Während des Ersten Weltkrieges kam es zum größten Ausbau in der gesamten Geschichte des Werkes. In den Jahren 1914 bis 1918 entstand die 55.000m² große 'Lokrichtehalle', in der mit Hilfe von 100t-Kranen die 'Fließfertigung' im Lingener Werk eingeführt wurde. Dazu musste ein Großteil der bestehenden Werkanlagen beseitigt werden.
Das alte Kraftwerk - der ehemalige Kern der Gesamtanlage - die Dreherei, der alte Wasserturm und weitere Gebäude fielen der neuen, gigantischen 'Lokrichtehalle 1 & 2' zum Opfer; die Nutzungen mussten umgesiedelt werden und erhielten großzügigere Bereiche in anderen Teilen des Werkes.
Die bis heute erhaltenen Gebäudeteile, wie Schmiede und Betriebsschlosserei sind nur noch die 'Köpfe' der ehemaligen Anlage, die direkt bis an die, eigentlich provisorisch geplante, Ostwand der großen 'Halle 1 & 2' gekürzt wurden.
Zu den neu errichteten Gebäuden jener Zeit gehörten: Im Jahr 1915 das repräsentative Verwaltungsgebäude, 1916 der neue Werkwasserturm auf dem Nordabschnitt und 1917 die Werkfeuerwehr (zunächst als 'Badeanstalt').
Im Jahre 1924 wurde die 'Deutsche Reichsbahngesellschaft' gegründet und das Werk in 'Reichsbahnausbesserungswerk' (RAW) umbenannt.
Während der NS-Diktatur entstand im Jahre 1939 die neue, sehr großzügig dimensionierte Lehrwerkstatt im Stil der neuen Zeit: zwar sachlich im Stil, doch mit historisierenden Elementen und pathetischen Details besonders in Räumen der Gemeinschaftlichkeit, wie beispielsweise dem Speisesaal.
Während des Zweiten Weltkrieges kam es bei Luftangriffen, besonders am 21. Januar und 21. November 1944 zu schweren Schäden im Lingener Werk.
Nach dem Krieg fanden vornehmlich Sicherungsarbeiten an den beschädigten Gebäuden statt. Gestalterische Qualität war fortan nicht mehr gefragt. Alle Gebäude, die nach dem Krieg entstanden, weisen kaum noch architektonischen Wert auf, denn sie sollten schlicht zweckmäßig und preisgünstig sein. So entstanden die Aschkastenwerkstatt in Kalksandsteinmauerwerk, die Halle 3 und die Küche mit der Kantine des Werkes in der Nachkriegszeit.
1948 erhielt die Werkstätte die offizielle Bezeichnung 'Eisenbahnausbesserungswerk' (EAW), dann drei Jahre später 'Bundesbahnausbesserungswerk' (AW).
Nach einer vergleichsweise kurzen Nutzungsdauer von 44 Jahren schlug bereits am 01. April 1954 im Rahmen umfangreicher Rationalisierungsbestrebungen der Deutschen Bahn die letzte Stunde für das Wagenwerk südlich der Hauptwerkstätte. Die vorhandenen Hallen vermietete man an Fremdfirmen.
Nur der massive, dunkelgrau gestrichene Winkelturm (Hochbunker der Bauart Winkel benannt nach ihrem Konstrukteur Leo Winkel) nahe der heutigen 'Kurt-Schumacher-Brücke' erinnert heute noch an die Wagenabteilung der Hauptwerkstätte Lingen, wo seit Mitte Ende der 1980er Jahre die Emslandhalle ihren Standort gefunden hat.
23.06.1956: Endlich durfte das 100-jährige Bestehen des Eisenbahnausbesserungswerkes in Lingen, des damals größten Industriebetriebes im weiteren Umkreis, groß gefeiert werden. An diesem Tag der offenen Tür war das Werk für Besucher geöffnet und zahlreiche Gäste informierten sich über die Arbeit des Werkes.
Im Jahr 1969 wurde die Lehrlingsausbildung im Ausbesserungswerk Lingen eingestellt und das Werk in eine 'Ausbesserungswerkstätte' (AWST) umgewandelt. Im Zuge des besonders im Emsland nur zögerlichen Verschwindens der Dampflokomotiven von den Strecken der Deutschen Bahn gab man auch die Instandhaltung der Dampfrösser im Werk auf und der Betrieb wurde auf die Instandhaltung von Güterwagen umgestellt.
Im Juni des Jahres 1972 verließ die letzte Dampflokomotive (051 696-3) die Lingener Hallen. Fünf Jahre später verschwanden die Dampfloks endgültig vom emsländischen Schienennetz der Deutschen Bahn und wurden vorerst durch Diesellokomotiven ersetzt.
Erst am 28. September 1980 konnte der elektrische Schienenverkehr auf der Strecke Emden-Rheine aufgenommen werden. Die Emslandstrecke ist damit der letzte Streckenabschnitt im Bundesgebiet, auf dem Dampflokomotiven noch bis 1977 regelmäßig zum Einsatz kamen.
Im Jahr 1983 stellte man schließlich auch die Güterwageninstandhaltung im Lingener Werk ein und fortan wurden weite Bereiche der Werkanlagen aufgelassen oder als Lagerflächen an Fremdfirmen vermietet, was dem Verfall und dem Vandalismus Tür und Tor öffnete.
Eine stille Zeit begann: Die letzten dreizehn Jahre des EAW Lingen waren angebrochen. Eine Sicherung und Wartung der großflächig brach liegenden Gebäude fand praktisch nicht mehr statt und große Teile der Gebäude verfielen. Hallendächer wurden undicht, Lagerflächen von der Natur zurückerobert.
Ab 1980 fertigte bzw. reparierte man in den letzten noch genutzten Gebäuden - der Halle 3, der ehemaligen Schmiede und der ehemaligen Betriebsschlosserei - Feuerlöscher, Wagendecken, Rungen und Stempel mit einer stetig sinkenden Zahl Beschäftigter.
Im Jahre 1984 wurden noch einmal alte Zeiten lebendig und historische Dampfloks für die museumsgerechte Präsentation im Jubiläumsjahr 1985 (150 Eisenbahn in Deutschland) hergerichtet.
Am 30.04.1985 löste man die 'Zentralstelle für den Werkstättendienst' (ZW) auf. Seit diesem Jahr verschwanden sukzessiv die noch verbliebenen Werkstätten und ihre Angestellten.
Erst Ende 1996 wurde die bis zuletzt verbliebene Tischlerwerkstatt geschlossen. Damit war unmerklich der endgültige Schlusspunkt für das AW Lingen gesetzt.
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
Wer weitere Details zur Geschichte des EAW Lingen wissen und zudem viel Interessantes über Lokomotiven sowie viele Geschichten rund um die Eisenbahn im Allgemeinen erfahren möchte, bemühe sich um das vergriffene Buch 'Das Ausbesserungswerk Lingen - Zur Bahngeschichte des Emslandes' von Bernhard Rehring (ISBN 3-922657-46-X).
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