Wie definiert sich 'schöne', oder sagen wir besser gute Architektur? Abgesehen von der Subjektivität dieser Frage ist nach Ansicht vieler Menschen Architektur schön, wenn sie harmonisch erscheint, möglichst nach dem goldenen Schnitt gestaltet wurde und sich gut in die Umgebung einfügt, vielleicht sogar noch damit verschmilzt.
Diese Voraussetzungen erfüllt die gewaltige Lokomotivhalle 1 & 2 in Lingen schon aufgrund ihrer Dimensionen in keiner Weise. Doch ist sie deshalb schlecht oder muss man sich vielleicht nur mit ihrer Geschichte vertraut machen, um ihre Formensprache zu verstehen, ihre Erscheinungsform aus dem zeitlichen Kontext, der Weiterentwicklung der Architektur - und damit auch der gesellschaftlichen - heraus zu begreifen?
Der Drang nach Wohlstand und das Streben nach Bequemlichkeit und Macht waren wie immer die Eltern der gesellschaftlichen Veränderung und so auch indirekt die Gestaltgeber der Halle 1 & 2 in Lingen.
Die rasante Fortentwicklung der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts forderte auf allen Gebieten immer größere Kapazitäten: mehr Besitz für möglichst viele, eine bislang ungekannte Mobilität, die beflügelnde Aussicht, ungeahnte Gütermassen zu transportieren, Rohstoffe zu erschließen, auszubeuten und, wie sich schon sehr bald zeigen sollte, gigantische Mengen an Rüstungsgütern zu allen Fronten eines Weltkrieges zu bringen, der die Euphorie der Belle Époque mit einem gewaltigen Schlag beendete.
Diese Entwicklungen erforderten im vorliegenden Fall in logischer Konsequenz mehr Lokomotiven. Dies wiederum verursachte ein höheres Aufkommen an Schadfahrzeugen und führte zu mächtigem Platzmangel - auch im Lingener Eisenbahnwerk.
Es musste also eine neue 'Richtehalle' zur wirtschaftlichen Reparatur möglichst vieler Lokomotiven her.
Die Anforderungen, die zu jener Zeit an eine solche Halle gestellt wurden, sind bis heute gleich geblieben: flexibel durchzuführende Arbeitsabläufe und ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit waren ebenso grundlegende Forderungen, wie der Wunsch nach viel natürlichem Licht zur Minderung der Beleuchtungskosten und im Besonderen eine, im Vergleich zu den zur Entstehungszeit vorhandenen Gebäuden, gigantische Grundfläche.
Hatte man erst sechs Jahre zuvor die damals neu erbaute Halle 4 mit ihren 5.000m² für ausreichend gehalten, so lauteten die Forderungen des Jahres 1914 für die neue Lokomotivhalle 1 & 2 auf nicht weniger als mindestens 11.000m², wobei dieser Anspruch noch nicht einmal die ursprünglich geplante Größe der entstehenden Lokomotivhalle abdeckte, sondern lediglich ein Etappenziel darstellte.
Die Schaffung eines derartig großzügig dimensionierten Hallenbaukörpers stellte die Planer vor einige Probleme. Wollte man den Standort des Werkes beibehalten, so blieb nur der Abriss beinah aller damals bestehenden Gebäude: Der Werkswasserturm verschwand und wurde auf dem nördlichen Werkhof neu errichtet. Der gesamte Zentralbereich der historischen, hufeisenförmig angeordneten Gebäude mit darin befindlichem Kraftwerk, Dreherei, Lehrwerkstatt und Kupferschmiede wurden ebenfalls entfernt.
Auf diese Weise entstand ein lang gestreckter, linearer Bauplatz, der sich aus einer neuen Methodik der Fertigung heraus ergab: die Fließfertigung hielt ihren Einzug im AW Lingen.
Wurden die schadhaften Lokomotiven bislang ca. drei bis sechs(!) Monate auf festen Arbeitsständen überholt und bis zur Fertigstellung belassen, so durchliefen die Fahrzeuge nun schrittweise auf bis zu sieben parallelen, ebenerdig verlegten Gleisen mit Arbeitsstände innerhalb von ca. vier Wochen die unterschiedlichsten Fertigungsbereiche.
Die teilweise tonnenschweren Einzelteile der Dampflokomotiven, Kessel, Führerkabine, ja komplette Lokomotiven konnten nun auch entgegen der 'Laufrichtung' der Halle mittels 100t-Krananlagen völlig flexibel zu jedem beliebigen Arbeitsbereich entlang der Fertigungsstraßen transportiert werden.
Die Entwicklung der Stahlbauarchitektur brachte die Planer jener Zeit ihren Wunschvorstellungen näher und näher. Die Qualität der Baustähle wurde stetig verbessert, raffinierte Konstruktionen entworfen und unglaubliche Spannweiten erreicht.
Faszinierend filigrane Bauten entstanden damals: bereits 1851 beeindruckte der britische Architekt Joseph Paxton zur Weltausstellung im Londoner Hyde Park mit seinem 'Crystal Palace' und 38 Jahre später taten Gustave Eiffel und Stephen Sauvestre mit ihrem 'Eiffelturm' das gleiche in Paris.
Sicher brauchte es etwas Zeit, bis sich die Zeichen der Zeit auch im damals(!) etwas behäbigen Emsland bemerkbar machten, aber sie eröffneten, wenn auch in weit weniger spektakulärer Form im damaligen 'Werkstättenamt A' an der Kaiserstraße bisher ungeahnte Möglichkeiten.
Die neue 55 x 200m lange Halle entstand in schnörkelloser Stahlskelettkonstruktion, deren Gefache mit Ziegelmauerwerk ausgefüllt wurden. Eine 1,40m hohe Sockelzone umschließt das gesamte Gebäude.
Dieses Bauwerk zeigte keine Überformung nach alter Sitte mehr wie noch wenige Jahre zuvor die Halle 4.
Das Charakteristischste an der neuen Lokomotivhalle war und ist bis heute das endlos erscheinende 'Meer' von Oberlichtbändern. Eine Woge reiht sich an die nächste, taktet die Fassade und ist für den beachtlichen Glasanteil des Bauwerkes verantwortlich.
Blickt man vom Lingener Bahnhof auf die Fassade der Halle 1 & 2, wird das Erlebnis noch gesteigert: über dem westlichen, niedrigeren Seitenschiff erhebt sich eine weitere Reihe der gläsernen Oberlichter, abgesetzt durch ein horizontal eingefügtes Lichtband. Sonnenlicht wird von den Glasflächen reflektiert und belebt durch zusätzliche Bewegung und reizvolle Licht- und Schattenspiele.
Im Firstbereich wird das großflächig verglaste Dach noch weiter aufgelöst. Hier verläuft ein auf gesamter Länge durchgezogenes Lichtband.
Doch nicht nur äußerlich bietet das Bauwerk einen imposanten Eindruck, auch im Innern fasziniert Halle 1 & 2 mit ihrer hohen Transparenz, ihrer Weite, der mächtigen Stahlkonstruktion mit auflagernden Kranen und ihrer Raumhöhe von bis zu 15m.
Das von allen Seiten einfallende Tageslicht verleiht dem Gebäude eine feierliche Stimmung von beinah sakralem Charakter, in der die Gefache der abgestuften westlichen Seitenwand beinah schwerelos zu schweben scheinen.
Die Konstruktion der Halle 1 & 2 erlaubte auch im Wandbereich ein hohes Maß an Flexibilität. Musste aus betriebstechnischen Erwägungen heraus ein Gleis verlegt werden, konnte ein Einfahrttor oder ein Fenster problemlos vermauert und an anderer Stelle eingesetzt werden. So etwas wäre beispielsweise bei der massiv bzw. in Mischkonstruktion erstellten Halle 4 nicht ohne gestalterische Einbußen möglich gewesen, von statischen Aspekten ganz abgesehen.
Dies ist bei der Halle 1 & 2 bis heute zumindest technisch kein Problem, was die hohe Zahl großformatiger Fenster, die sich mit den Oberlichtern abwechselnd in allen Wänden des Gebäudes befinden, beweist.
Die Giebelflächen das großen Halle 1 & 2 in Lingen überraschen bis heute mit ihrer asymmetrischen Ausgestaltung. Zwar könnte man nun glauben, es wäre den Baumeistern zweitrangig oder sogar leicht provokativ 'schnurz' gewesen, wie es unter anderem von Baldur Köster in seinem ansonsten sehr empfehlenswerten, aufwendig gemachten Buch 'Lingen, Architektur im Wandel von der Festung zur Bürger- und Universitätsstadt bis zur Industriestadt' dargestellt wird. Die Wahrheit ist jedoch eine ganz andere: Die Halle 1 & 2 ist schlicht nie fertig geworden.
Das bis heute vorhandene Bauwerk stellt lediglich etwas mehr als die Hälfte des ursprünglich geplanten Gebäudes dar. Indizien dafür gibt es reichlich: Die ursprünglich geplante Erscheinung der Halle sah eine Spiegelung an ihrer Firstachse vor. Die so entstandene Halle wäre damit weit weniger avantgardistisch gewesen, als man es ihr gelegentlich attestiert. Des Weiteren entsprächen die Ausmaße, welche die so entstandene Halle erreicht hätte, in günstiger Weise den örtlichen Möglichkeiten.
Eine Weiterführung des Ausbaues hätte die Rudimente des alten Werkes und somit auch die enthaltenen Werkstätten ersetzt und in eine gemeinsame 'saubere' Hülle mit einbezogen. Die straßenflankierende Bebauung wäre erhalten geblieben. Das bedeutet, dass nur entbehrliche Teile der Hallen durch den zweiten Bauabschnitt entfallen wären.
Das ehemalige AW in Schwerte verfügte beispielsweise über eine Halle, die in ihrer Bauform der Lingener Halle entsprechend der ursprünglichen Planung ähnlich war.
Hätte man es bei der heute vorhandenen Breite belassen wollen, hätte man den First zweifellos symmetrisch gestaltet, denn der Rest der Halle ist es auch.
Das Ergebnis dieser ursprünglichen Planungen wäre beinah doppelt so groß und innen wie außen doppelt so eindrucksvoll gewesen. Doppelt so schwer umzunutzen wäre es heute allerdings auch gewesen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sahen die Prioritäten jedoch plötzlich ganz anders aus als erwartet. Große Investitionen waren unmöglich und so wurde lediglich der Bestand gesichert, ausgebessert und in Teilen notdürftig ergänzt. Die gestalterische Qualität war dementsprechend: Die Zeichen einer schweren Zeit.
Manche Vorzüge der riesigen Halle 1 & 2 in Lingen sind auch zugleich ihre Nachteile: Der hohe Glasanteil und ihre südliche Ausrichtung sorgte für eine unerwünschte Aufheizung der Halle. Zur Vermeidung dieses Effektes wurden die entsprechenden Flächen häufig mit Schattierungsfarbe überstrichen, was der äußeren Erscheinung (besonders bei Verwendung himmelblauer Farbe) ziemlich abträglich war.
Im Winter wiederum erwies sich die dünnwandige, einschalige Hallenhülle mit ihren einfachverglasten Stahlfenstern als miserabler Wärmedämmer. Eine Heißluftgebläseanlage wurde zum Heizen der Halle eingesetzt - deren Wirkungsgrad man sich unter diesen Umständen vorstellen kann.
Mit dem 1970 einsetzenden Auslauf der Dampflokinstandhaltung wurde die Halle 1 & 2 auf die Unterhaltung von Güterwagen umgerüstet, welche man dreizehn Jahre später ebenfalls einstellte.
In den Folgejahren zog sich die DB immer weiter aus den Hallen zurück. Die ehemalige 'Lokrichtehalle 1 & 2' wurde fortan an Fremdfirmen als Lagerraum vermietet.
Zunächst richtete das VW-Werk Emden ein Zwischenlager für seine 'Just-in-time-Distribution' ein. Container mit Kotflügeln und ähnlichen Formteilen stapelten sich in der Halle, die zwecks problemlosen Gabelstapler-Verkehrs mit einem neuen Asphalt-Bodenbelag ausgestattet wurde.
Nach dem Verschwinden von VW zu Beginn der 1990er Jahre nutzten größere Firmen der Umgebung Teilbereiche der Halle als Lagerflächen, auf denen sich nun palettenweise Schüttgut in Säcken, PKW und Karnevalswagen befanden.
Diese stillen Jahre fanden ein jähes Ende, als Mitte der 1990er Jahre ein Go-Kart-Unternehmen die riesige Halle mit dem schönen glatten Asphaltboden für sich entdeckte. Fortan flitzten die Karts durch den von Reifenstapeln gebildeten, großzügigen Parcours.
Allzu lange währte jedoch auch dieses Intermezzo nicht und 1996 stand die Halle 1 & 2 in Lingen wieder leer.
Nach dem Erwerb der brach liegenden Immobilie durch die Stadt Lingen stellten sich nun wichtige Planungsfragen: Wie kann ein Nutzungskonzept für ein solches Gebäude aussehen? Die FH Osnabrück hatte Interesse angemeldet. Ein größerer Hochschulstandort Lingen war in Planung, der zwingende Erhalt des Gebäudes unstrittig, denn sein Wert liegt in seiner untrennbaren Verstrickung in die Weiterentwicklung unserer Gesellschaft.
Es ist Zeuge und Produkt einer gewaltigen alles umwälzenden Entwicklung, die unseren heutigen luxuriösen Lebensstandard erst ermöglichte.
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
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