Das wohl bekannteste Gebäude auf dem Gelände des ehemaligen Eisenbahn-Ausbesserungswerkes Lingen ist die Halle 4. Neben der mehr als doppelt so großen Halle 1 & 2 prägt sie das Gesicht des Lingener Bahnhofbereiches und hat inzwischen auch überregional Bekanntheit erlangt.
In den späten Jahren des 19. Jahrhunderts kam es aufgrund der raschen Entwicklung des Eisenbahnverkehrs zu einem stetig wachsenden Bestand an wartungsbedürftigen Fahrzeugen im Ausbesserungswerk Lingen. So wurde um 1875 eine neue Lokomotivhalle errichtet, die 'Neue Bude' genannt wurde und ihren Standort westlich der Kesselschmiede sowie südlich des damals hier existierenden Ringlokschuppens auf dem Nordabschnitt des Werkgeländes fand.
Nach etwa dreißig Jahren Nutzung war diese Halle flächenmäßig überholt. Eine neue, größere Halle musste her, die nördlich der 'Neuen Bude' entstand, was diese wiederum zur 'Alten Bude' machte. Für das mit ca. 5.000m² vermeintlich großzügig dimensionierte Gebäude musste der Ringlokschuppen weichen. Diese 1908 fertiggestellte Halle war die Lokomotivhalle 4.
Die Halle 4 ist ein vierschiffiger Hallenbau mit freitragendem Dach in Stahlfachwerkkonstruktion mit Oberlichtbändern. Die Giebelflächen sind harmonisch gegliedert und zeigen reich aufgeteilte Putzflächen unter Rundbogenfriesen und große Segmentbogenfenster unter subtil eingefügtem Gesims.
Die vertikale Gliederung der Stirnseiten erfolgt durch gestufte Mauerwerkspfeiler. Horizontal schließen die gestaffelten Giebelflächen mit Sandsteinsegmenten ab.
Die aufwendige Gestaltung der je ca. 15m breiten Giebelseiten der Halle 4 erzeugt neben ihrem optischen Wert eine reizvolle, von Licht und Schatten 'bewegte' Fassade. Dieses Spiel mit Schattenkanten, Mauerwerkspfeilern, großzügigen Stahlrahmenfenstern unter Segmentbögen und Putzflächen setzten die Baumeister auch an den Längsseiten der bis zu 90m langen Halle fort, deren beider südlichen Hallenschiffe an den Stirnseiten um ca. fünf bzw. zehn Meter zurückspringen.
Im Innenbereich verfügte die Halle 4 über eine zentrale Schiebebühne mit beiderseits angeordneten Arbeitsständen, was fertigungstechnisch jedoch keine Neuerung bedeutete. Die schadhaften Fahrzeuge wurden wie schon im Vorgängerbau auf festen Arbeitsständen überholt. Die Zufahrtstore befanden sich an den Längsseiten des Gebäudes, vor denen ebenfalls eine Schiebebühne zum Einsatz kamen.
Der Halle 4 blieben stümperhafte Umbauten, die anderen Gebäuden des Werkes schweren Schaden zufügten, größtenteils erspart. Die umfangreichsten Änderungen fanden im Innenbereich statt. So wurde im Jahre 1951 eine zentrale Mauer in Ost-West-Richtung in kompletter Raumhöhe mit einer vorgelagerten Empore errichtet. Hinter der nordöstlichen Giebelfläche befanden sich kleinere Büroeinbauten in zweigeschossiger Bauweise. Viele der westlichen Hallenfenster wurden vermauert und weitere vereinzelte einfache Büroeinbauten aus Kalksandstein nach Bedarf in der Halle angeordnet.
Der Neubau der benachbarten, etwa doppelt so großen Halle 1 & 2 und die damit einhergehende Verlagerung der Lokomotivausbesserung zog diese Umbauten nach sich, denn nun wurde aus der erst knapp zehn Jahre alten 'Neuen Bude' die Tenderausbesserung und wieder etwas später die 'Stoffabteilung' des AW Lingen, in der alle möglichen Tauschteile gelagert, Werkzeuge angefertigt und Armaturen hergestellt wurden. Dazu wurde es im Laufe der Nutzungszeit 'baulich angepasst'.
Mit dem immer weiter voranschreitenden Rückzug der Bundesbahn aus den Gebäuden an der Lingener Kaiserstraße brach eine stille Zeit für die Halle 4 an. Das Gebäude wurde jahrelang an Fremdfirmen vermietet, Möbel, Karnevalswagen und Düngemittelsäcke darin gelagert. Außerdem war eine Autolackiererei zeitweise hier untergebracht.
Während dieser Zeit investierte der Eigentümer Deutsche Bahn mit einiger Sicherheit keinen Cent - pardon - Pfennig in das Bauwerk, das somit mehr und mehr dem Verfall preisgegeben war. Das bitumengedeckte Holzdach war großflächig undicht, Fenster wurden eingeworfen, Ziegelsteine herausgebrochen, ganze Mauerteile fielen zusammen und verschwanden unter wucherndem Grün.
So präsentierte sich die Halle 4 im Jahre 1990, als eine Firma beauftragt wurde, eine Dacherneuerung vorzunehmen. Über eine längere Zeitspanne wurde der alte Dachbelag entfernt, die Stahlfachwerkträger, deren Stützen und Träger demontiert, teilweise vor Ort mittels Sandstrahl entrostet und farblich sowie brandschutztechnisch neu beschichtet. Auch die mittlere Trennwand verschwand.
Während dieser Zeit bot die Halle 4 ein trauriges Bild. Aufgrund des fehlenden Dachtragwerkes mussten die Giebelflächen mit aufwendigen Fundamenten und Stützkonstruktionen abgefangen werden. Die allgemein zugängliche Halle wurde das Opfer von Vandalen und auch der eindringende Regen trug seinen Teil dazu bei.
Im Herbst 1993 war die Dacherneuerung abgeschlossen. Im Anschluss entfernte man die zerfallenden Reste der alten Büroeinbauten, riss Gleise und Fundamente heraus, öffnete die zugemauerten Fenster und ersetzte die Stahlrahmenfenster durch Rekonstruktionen mit zeitgemäßer Verglasung.
Die Außenhülle wurde gereinigt, zerbrochene Ziegelsteine ersetzt und das gesamte Gebäude neu verfugt.
Anschließend wurden die Putzflächen vorbildlich erneuert, die Sandsteinabschlüsse der Giebelflächen allerdings nur leidlich ausgebessert und später mit Zinkblechabdeckungen versehen, da keine Sperrschicht eingebracht worden war und Feuchtigkeit in das Mauerwerk drang, was zu Sulfatausblühungen führen kann. Im Juni 1996 wurden die Sanierungsmaßnahmen der Außenhülle abgeschlossen.
Nach einem Ideenwettbewerb, aus dem das Braunschweiger Büro 'rde' als Sieger hervorging, begann der Innenausbau. Nach dem Vorbild von Containern entstand ein nach den Oberlichtbändern ausgerichtetes Netz von Wegen mit begleitender Büroraumbebauung. Rechtwinklig zu diesen Fluren wurden zwei weitere, großzügige Querflure von der Nordseite in die Halle gelegt.
Die oberen Etagen verfügen über ein reizvolles Wegenetz, mit Brücken und unterschiedlichen Treppentypen. Die äußere Gestaltung der Container erfolgte durch Holzpaneelen im Erdgeschoss und weiß getünchte Leichtbauwände darüber. Raumhohe Trennwände zu den Querfluren mit Rauchschutztüren aus Glas schufen weitreichende Blickachsen.
Ein Bereich der Halle 4 wurde dem Lingener Kunstverein als Ausstellungsfläche zur Verfügung gestellt, der Großteil der Containereinbauten an Privatfirmen und den Offenen Kanal 'Ems-Vechte-Welle' als Bürofläche vermietet und der Rest als Ausstellungsfläche für Veranstaltungen eingerichtet, an die ein Caféeinbau grenzt.
In diesem Bereich der Halle 4 wurde zudem das historische Mauerwerk freigelegt, was die Außenhülle erlebbar macht und weniger steril wirkt als die unpersönlichen weißen Wände, die den Charakter der Halle in allen übrigen Bereichen leider vertuschen und wenig authentisch wirken lassen.
Die heutige Nutzung der Halle 4 steht unter dem Motto 'Medien, Wirtschaft, Kunst'. Viele kleine Firmen, Vereine und Studierende haben hier eine besondere Heimat gefunden.
Eine rundum zufriedenstellendes Ergebnis gibt es beim Sanierungsobjekt 'Halle IV' jedoch leider nicht. Dies beginnt mit der direkten Koppelung der Containerbauten an die Außenhaut der Halle und ihre Fenster. Kältebrücken entstehen, bauphysikalisch bedingte Bauschäden sind damit vorprogrammiert.
Konstruktive Details sind flüchtig und - mit Verlaub - schlampig ausgeführt worden. Die Lebensqualität in den Containern kann man bestenfalls als ausreichend bezeichnen: dunkle, lange Flure, kleine Fenster, sterile und dumpfe Wirkung.
Das als zentrale Begegnungsstätte konzipierte Café kann seine Wirkung kaum entfalten. Keine natürliche Belichtungsmöglichkeit, Randlage zum nur sporadisch genutzten Ausstellungsbereich, der fast zwei Hallenschiffe blockiert und eine eigenartige Grundrissgestaltung einiger Container.
Wie es besser gegangen wäre, zeigt ein besonders gelungenes Projekt aus Waltrop.
Auch hier wurde aus einer alten, vergleichbaren Industriehalle ein 'Behälter' für moderne Büros. Das Konzept des Coesfelder Architekten Klaus-Dieter Luckmann folgte mit seiner einfachen aber durch und durch gelungenen Planung der Firmenphilosophie des Bauherrn 'Manufactum', die da lautet 'Es gibt sie noch, die guten Dinge' - ja, das stimmt.
Nach der Grundsanierung der Zechenhalle wurden auch hier Container-Einbauten geschaffen, deren solide Stahlkonstruktion samt Zugbändern vollständig sichtbar blieb. Die Holzverkleidungen der Einbauten sorgen in ihrer Symbiose mit den warm wirkenden terracottafarbenen Bodenfliesen für eine bei der Größe des Raumes sehr angenehme, beinah wohnliche Atmosphäre.
Die vollständige Entkoppelung der Container von der Außenhaut der Halle erlaubt zudem ein auf einfache Weise überzeugendes Energiekonzept.
Beide oberen Geschosse der Einbauten werden von begleitenden Stegkonstruktionen erschlossen, wodurch unnötige dunkle Flure intern vermieden wurden.
Sehr positiv zu bewerten sind hier auch das vollständig freigelegte Bestandsmauerwerk mit allen Beschädigungen und Ausbesserungen sowie die im Gebäude verbliebenen alten Maschinen, welche die Vergangenheit des Ortes erlebbar machen und der Halle ihre Identität lassen.
Nachteilig ist natürlich die komplizierte Belüftung der Büroräume durch den Abstand zur Außenhaut der Halle, sodass man erwähnen muss, dass es beim Haus-im-Haus-Prinzip keinen Königsweg gibt. Die Belüftung ist meistens ein schwieriges Problem, wenn es um denkmalgeschützte Hallenbauten und Containereinbauten geht.
Doch zurück zur Halle 4, wo sich leider jemand genötigt sah, die Westgiebel der Halle mit oben aufgesetzten Neonschriften zu 'verzieren'. Wenn man der Meinung ist, dass eine so komplex und liebevoll gestaltete Fassade für sich spricht und auf derartigen Unsinn verzichten kann, liegt man völlig richtig.
Bei aller Kritik darf man sich über die Tatsache freuen, dass Lingen diese historische Bausubstanz erhalten blieb und wieder mit Leben gefüllt wurde und Fehler, die gemacht wurden, können für die noch folgenden Umbauten der verbliebenen Hallen auch hilfreich sein.
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
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