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Das Kraftwerk des EAW Lingen

Mit Volldampf durchs Industriezeitalter

Ein 42 Meter hoher, qualmender Schornstein wies lange Zeit und weithin sichtbar den Weg zum Lingener Ausbesserungswerk. Es handelte sich um den Kamin des betriebseigenen Kraftwerkes, des höchsten Bauwerkes an der Kaiserstraße, das äußerlich durch seine hoch aufragenden, rußgeschwärzten Mauern und verstaubten Fenster einen abweisenden Eindruck vermittelte.

Lange bevor die Stadt Lingen sich ihren nur mäßig schmeichelhaften Ruf als Standort eines Atomkraftwerkes erwarb, hatte man im Reichsbahn-Ausbesserungswerk schon die Notwendigkeit unabhängiger Energieerzeugung erkannt - zumal es bis 1925 noch keine anderen Stromversorger in der ländlich gelegenen Stadt mitten im Emsland gab. Und so erhielt auch das städtische Krankenhaus bereits ab 1922 seinen Strom vom Eisenbahnwerk.

Mit der Erweiterung der Werkanlagen um die, im Vergleich zu den frühen Werkhallen gewaltige Halle 4, wuchs der Energieverbrauch stetig an. Die dortige dampfbetriebene Hallenheizung und besonders die geplante Umstellung der Fertigungsmaschinen auf Elektrizität machten den Bau eines neuen Kraftwerkes nötig.

Aufbau des Gebäudes

War bislang eine U-förmige Anordnung der Werkanlagen mit einem zentralen Kraftwerk dem Antrieb der, alle Maschinen versorgenden, Transmissionswelle geschuldet, so war der Standort des Kraftwerkes für die Stromerzeugung gleichgültig.
Man plazierte es also im Jahr 1908 an den Rand der Kaiserstraße, rechts vom späteren Haupttor des Werkes. Hier entstand ein einschiffiger, gedrungener Hallenkörper mit Satteldach und durchlaufendem Oberlicht. Im, zur Werksseite etwas breiter angelegten und räumlich abgetrennten südlichen Teil dieses Gebäudes, wurde das Maschinenhaus eingerichtet. Zwei mächtige Kolbendampfmaschinen mit Gleichstromgeneratoren von jeweils 185 Kilowatt und 440 Volt erzeugten fortan und bis ins Jahr 1959 den Strom direkt vor Ort.
An der südlichen Giebelwand entstanden eingeschossige Anbauten mit Pultdach, in denen Garagen und später ein Raum zum Laden der Elektrokarren, mit denen im Werk Arbeitsmaterialien transportiert wurden, untergebracht waren. Ein paar Meter südlich des Gebäudes entstand gleichzeitig ein etwa 15 Meter hoher Kühlturm in Holzkonstruktion, welcher der Rückkühlung des Wassers diente und etwa 20 Jahre später wieder verschwand, als man das Hauptwerktor hierher verlegte.

Zur Entstehungszeit des Gebäudes erfolgte die Dampferzeugung im Kraftwerk mittels zweier Flammrohrkessel mit einer Leistung von jeweils 2,5 Tonnen pro Stunde bei einem Kesseldruck von 12 bar. Diese waren im Kesselhaus, dem nördlichen Gebäudeteil untergebracht.
An die nördliche Giebelwand setzte man einen kleinen zweigeschossigen Werkstattanbau, in dem zeitweise unter anderem eine kleine Lackiererei untergebracht war, welche unter anderem die Schilder für den Werkbetrieb erstellte.
Ein 42 Meter hoher Fabrikschornstein zur Abführung der Rauchgase des Kessels - freistehend zwischen dem Kraftwerk und der benachbarten Werksfeuerwehr - vervollständigte das neue Kraftwerk.

Die unheilvolle Gedenktafel des AW Lingen

Etwa zu Beginn der 1930er Jahre wurde an der südwestlichen Ecke des bestehenden Kraftwerkes, rechts des hier neu entstandenen Haupteinganges ein zweigeschossiger Transformatorenturm mit rechteckigem Grundriss errichtet. Von dessen Längsseite vier Stahltüren die separierten Transformatorenkammern erschlossen.
An der südlichen Außenwand dieses Gebäudeteils enthüllte man am 4. Juli 1936 mit großem Aufmarsch und reichlichem NS-Pathos eine Gedenktafel: eine zeittypische, von mäßiger Kunstfertigkeit geprägte Darstellung zweier Gestalten als Relief: links ein Arbeiter, rechts ein Soldat, dazwischen eine Tafel mit den Namen der gefallenen Werkangehörigen des Ersten Weltkrieges.
Nach dem unrühmlichen Ende der Diktatur wurde eine weitere Tafel eingefügt: 'Den Gefallenen Kameraden' des Zweiten Weltkrieges.

Bis in die Gegenwart erhitzt das im Juli 1991 'sichergestellte' delikate Sandsteinobjekt regelmäßig die Gemüter der wohlmeinenden (und selbstredend besserwissenden) Ratsgemeinschaft: soll sie nun wieder aufgehängt werden? Wo kann man sie aufhängen? Doch wohl nicht auf dem Werkgelände?! Im Partykeller des Bürgermeisters? Oder lässt man sie vielleicht doch lieber auf dem Bauhof dem Zahn der Zeit anheim fallen?
Auf jeden Fall muss natürlich drangeschrieben werden, dass das ein ganz schlimmes Ding ist, weil die doofen Bürger das selbst nicht einordnen können und am Ende davor noch den Arm heben - das ist sogar sehr wahrscheinlich aber angesichts von bislang gut 30 Jahren der Entscheidungsfindung möglicherweise wohl nur um zu zeigen, wo das Vöglein wohnt.

Neuer Dampf in alten Häusern

Im Jahr 1950 wurde die Dampferzeugung modernisiert und ein neuer gemauerter Kessel des englischen Herstellers Babcock eingebaut. Aufgrund der Höhe dieser Anlage musste der nördliche Gebäudeteil erheblich umgebaut werden. Die Wände des Kesselhauses wurden auf mehr als das doppelte ihrer ursprünglichen Höhe heraufgezogen, an den Traufseiten großflächige Stahlsprossenfenster ein- und ein flach geneigtes Satteldach ohne Oberlicht aufgesetzt. Diese Umbauten machten das Kesselhaus zum höchsten Gebäude entlang der Kaiserstraße, von dessen Dach die dampfbetriebene Werkssirene fortan weithin vernehmbar Dienstbeginn, Pause und Feierabend verkündete.

Der neue Babcock-'Schrägrohr-Wanderrostkessel' lieferte nunmehr bis zu 12,5t Dampf pro Stunde bei einem Kesseldruck von 33 bar und 400°C Betriebstemperatur. Zur Versorgung dieser Anlage entstand werksseitig des Kesselhauses ein massiver Kohlenbunker aus Beton, auf dessen Außenwand eine Stahlschiene eingelassen war. Eine weitere Lauftraverse lagerte auf Betonkonsolen in Traufhöhe des neuen Kesselhauses.
Auf diesen Schienen bewegte sich eine filigrane Laufkran-Konstruktion zur Beschickung des Kessels durch ein zweiflügeliges Stahltor in Höhe der Fenster. Im Innenraum befand sich hinter dieser Öffnung ein Stahltrichter, durch welchen das Brennmaterial automatisch mithilfe des Wanderrosts in die Brennkammer weitertransportiert wurde. Der Babcock-Kessel selbst ruhte auf einer drei Meter hohen, massiven Betonplattform mit darunter liegender Aschenkammer.

Wie beengt die Raumverhältnisse auf dem Werksgelände zu dieser Zeit waren, zeigt die Unterbringung eines behelfsmäßigen weiteren Kohlenbunkers in Reichweite der Krananlage des Kesselhauses an der Außenwand der gegenüberliegenden Schmiede. Deren Stahlrahmenfenster verschwanden stumpf hinter einem riesigen Haufen Kohle...

Im Jahr 1959 wurden im Maschinenhaus beide Kolbendampfmaschinen stillgelegt und durch eine Gegendruck-Entnahmeturbine mit Drehstromgenerator ersetzt, die bis 1962 in Betrieb war. Dann wurde die Eigenstromerzeugung aufgegeben.

Gasbetrieben durch die letzten Jahre

Nach der Stilllegung des Babcock-Kessels am 1. Februar 1971 wurde ausschließlich zu Heizzwecken ein neuer wirtschaftlicherer Dreizugkessel mit Verbundbrenner für Öl und Gasbetrieb eingebaut, der 10 Tonnen Dampf pro Stunde bei 16 bar Betriebsdruck lieferte und eine sensiblere Leistungsanpassung an den tatsächlichen Bedarf des Werkes erlaubte. Außerdem stellte man verschiedene Gebäude des Werkes auf Erdgasheizungen um, um den Kostensteigerungen auf dem Energiesektor zu begegnen.
Äußerlich fielen diese Änderungen durch zwei neue metallene Rauchabzüge auf dem Dach des Kesselhauses auf. Die Krananlage auf der Rückseite des Gebäudes wurde demontiert und ein großer Heizöltank in den ehemaligen Kohlenbunker gelegt.

Der überflüssig und inzwischen baufällig gewordene Schornstein an der Kaiserstraße wurde 1975 aus Sicherheitsgründen gesprengt. Zwar verursachte er dabei einige Schäden am Asphalt, fiel aber ansonsten sehr artig in das vorbereitete Fallbett in der gegenüber liegenden Werkstättenstraße.

In der Industrie-Kathedrale

Mit dem stetig fortschreitenden Rückzug der Deutschen Bundesbahn vom Standort Lingen brachen auch für das Kraftwerk an der Kaiserstraße die letzten ruhigen Jahre an.
Anfang 1990 war der letzte Dreizugkessel längst demontiert worden, draußen donnerte tagtäglich der Verkehr durch die enge Kaiserstraße, doch drinnen im alten Kesselhaus ruhte der verbliebene gewaltige Babcock-Kessel eingestaubt auf seiner Betonplattform, nur umgeben von Taubenkadavern und Stille.

Der durch seine schiere Höhe und die großen, schmalen Fensterflächen beinah kathedral wirkende Raum mit seiner mächtigen Kesselanlage, dem Gewirr von Rohrleitungen, Stahltreppen, Geländern, Stegen, Tanks und einem höhlenartigen System von Wartungsgängen war in seinem Zustand des Verfalls und in Verbindung mit der Verlassenheit des Ortes von faszinierender Wirkung - eine Wirkung, die das Abrisskommando, das an einem frühen Morgen im Juni 1992 anrückte, auftragsgemäß wohl nur wenig beeindruckte.

Asche zu Asche, Stahl zu Stahl

Durch zwei in die Rückseite von Kessel- und Maschinenhaus gebrochene klaffende Löcher wurde zuerst der Babcock-Kessel abgetragen, der Stahlschrott von Ziegeln getrennt und die mit Schadstoffen kontaminierten Bestandteile separiert. Dabei legte man auch den Rauchgastunnel frei, dessen rußgeschwärzte Ziegel ebenfalls gesondert entsorgt werden mussten.
Im Anschluss riss man den niedrigen Werkstattanbau an der nördlichen Giebelwand nieder und in den nächsten Tagen folgte der Rest des hohen Kesselhauses, wofür eine Vollsperrung der Kaiserstraße veranlasst wurde.
Da im benachbarten Maschinenhaus zu dieser Zeit noch nicht alle, noch immer mit dem öffentlichen Stromnetz verbundenen Installationen demontiert waren, konnte der südliche Teil des Kraftwerkes nicht zeitgleich abgerissen werden. Daher sicherte man den beim Abriss beschädigte Giebel mit Folie.

Genau ein Jahr später, im Juni 1993, war es jedoch auch um das Maschinenhaus, das letzte verbliebene Bauwerk des ehemaligen Ausbesserungswerkes an der Kaisertraße, geschehen. Nachdem zuerst Garagenanbauten und der Transformatorenturm verschwanden, rückte man abschließend den massiven Grundmauern zuleibe und spendierte den lärmgeplagten Anliegern der Kaiserstraße auf diese Weise wiederum eine Vollsperrung.

Im Anschluss an die Abrissarbeiten wurden im Rahmen einer Tiefenenttrümmerung die schweren Kessel- und Maschinenfundamente ausgegraben, die Baugrube verfüllt, und die Lücke im neu angelegten Fahrradweg mit begleitender Baum- und Heckenbepflanzung an dieser Stelle geschlossen.

Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees

Erbaut:
1908 / 1950
Bauform:
Einschiffiges Hallengebäude mit An- und späteren Umbauten, Gründerzeit
Bauweise:
Ziegel-Massivbau, Dachtragwerk Stahl, Holzdach
Grundfläche:
ca. 863m²
Max. Abmessungen:
ca. 46,7 x 22m
Historische Nutzung:
Technisches Bauwerk für Dampf- und Stromerzeugung
Abbruch:
Juni 1992 / Juni 1993
Heutige Nutzung:
PKW-Parkfläche / Fahrradweg