Lange bevor die heute in den alten Hallen des Lingener Eisenbahnausbesserungswerkes befindliche Fachhochschule Osnabrück 'Campus Lingen' einzog, hatte man im Werk die Notwendigkeit der Nachwuchsförderung erkannt.
24 Jahre nach der Gründung der damals sogenannten 'Königlichen Bahnhofswerkstätte' begann man deshalb im Jahr 1880 direkt vor Ort, Lehrlinge für den Eigenbedarf auszubilden.
Mit der Inbetriebnahme des Eisenbahnwerkes im Jahr 1856 wurde schnell offenbar, dass man im ländlich geprägten Umland Lingens schwerlich geeignete Fachkräfte zur Reparatur von Dampflokomotiven finden würde. Deshalb erging von Seiten des Betreibers Preußische Staatsbahn die Weisung, im Lingener Werk Lehrwerkstätten einzurichten und einen gut ausgebildeten Stamm von Facharbeitern für die erforderlichen Arbeitsbereiche der Eisenbahn im Allgemeinen aufzubauen und für die Zukunft zu sichern.
Zukünftige Dreher, Technische Zeichner, Konstrukteure, Ingenieure und Schlosser wurden in der werkeigenen Schule sowohl praktisch als auch theoretisch unterrichtet. Im Rahmen der dreijährigen Ausbildung bauten Lehrlinge maßstäbliche Modelle von didaktischem Nutzen, wie Lokomotiv-Bauteile und Brücken sowie andere technische Konstruktionen. So stammte beispielsweise auch die originale Beschriftung am Werktor 'Bundesbahn Ausbesserungswerk Lingen (Ems)' aus der Lehrlingswerkstatt.
Die erste Lehrwerkstatt wurde 1880 in einem Bereich im Obergeschoss der Allgemeinen Dreherei eingerichtet. Zu dieser Zeit wurden bei einer Gesamtbelegschaft von 400 Beschäftigten zwölf Lehrlinge ausgebildet. Während der Ausbildung halfen die Lehrlinge außerdem in unterschiedlichen Meistereien des Werkes.
Mit Baubeginn der großen Lokrichtehalle 1 & 2 während des Ersten Weltkrieges verschwanden zahlreiche Gebäude aus der Gründungszeit des Werkes, um Platz für den Neubau zu schaffen. Auch die Lehrwerkstatt musste in dieser Zeit umziehen und fand ihren neuen Platz in der ehemaligen Werkzeugmacherei im Süden des Werkes, dem Verwaltungsgebäude gegenüber, welches, wie viele Gebäude des Werkes, gleichzeitig entstand.
Ab 1924 wurde in einem nachträglich an das Verwaltungsgebäude angebauten würfelförmigen Anbau die Werkschule für den theoretischen Fachunterricht eingerichtet.
Im Lauf der 30er Jahre stieg die Zahl der Auszubildenden stetig an, so dass das Gebäude der ehemaligen Werkzeugmacherei der Nutzung als Lehrlingswerkstatt nicht mehr genügte.
Im Jahr 1938 begann man mit den Planungen einer neuen großzügigen Lehrlingswerkstatt, die im März 1940 eingeweiht wurde. Es war dies ein zweiteiliger Baukörper aus einer schlicht gestalteten Halle mit einer Grundfläche von 940m² parallel zur Kaiserstraße. Große Fenster zu allen Seiten und ein im First verlaufendes Oberlicht sorgten für einen sehr hellen Raum in dem der praktische Unterricht von nun an an modernen Maschinen stattfand.
Nordwestlich, zur Gleisharfe hin, schloss sich ein eingeschossiger Anbau mit Pultdach an, in dem die Meistereizimmer mit direkten Zugängen zur Halle untergebracht war.
Dem Verwaltungsgebäude gegenüber und damit quasi auch ein 'Empfangsgebäude' direkt am südlichen Werktor entstand ein zweigeschossiger Gebäudeteil mit flach geneigtem Walmdach, in dessen Obergeschoss sich großzügige Sanitär- und Waschräume befanden. Im Erdgeschoss wurde ein Versammlungsraum eingerichtet, dessen Wände mit Motiven im Stil der NS-Diktatur bemalt waren: badende und Sport treibende Jungen und in der Mitte das bekannte Zitat Adolf Hitlers: 'Die deutsche Jugend der Zukunft soll schlank und rank sein. Flink wie Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl!'
Die Decke wurde von zwei massiven Pfeilern und sichtbar belassenen mächtigen Unterzügen getragen, was dem Raum Schwere verleiht und eine erhabene Wirkung hervorruft.
Auch aussen war man bemüht, dem schmucklosen Zweckbau mittels zwei über Eck gebauter Rundbogen im Eingangsbereich ein wenig Berghof-Chic zu verleihen.
Während der Diktatur und durchaus auch noch danach wurde der Jugend- und Körperkult ausgiebig zelebriert. So war jeden Morgen vor Arbeitsbeginn im südlichen Schiebebühnenfeld körperliche Ertüchtigung angesagt. Es gab einen Spielmannszug der Lehrlinge, Reichsberufswettkämpfe und auch die bereits in den Zwanziger Jahren praktizierten Jugend-Wanderfahrten und Ausflüge wurden im Lingener Werk wie überall im Deutschen Reich zu Zwecken der Propaganda intensiv instrumentalisiert.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die Beseitigung der Bombenschäden im Werk. Die Lehrwerkstatt selber hatte den Krieg ohne größere Schäden überstanden. Der nunmehr nicht weiter genutzte Gruppenraum wurde nach Überpinselung der Weisheiten des Führers umgenutzt. Hier entstanden nun die Werkstätten für Tischler und Maler.
Die Ausbildung im Werk wurde im noch weitere 24 Jahre fortgeführt. und endete im Jahr 1969. Auszubildende gab es fortan nur noch im Rahmen von Praktika.
Mit dem Auslaufen der Nutzung wurde das Gebäude der nun ehemaligen Lehrwerkstatt vom Betriebsamt Rheine verwaltet und an Fremdfirmen als Lagerfläche vermietet. So an die örtliche Tischlerei Wellermann und die Eisenwarenhandlung Ludden & Kistermann. Zuletzt nutzte die Bahnmeisterei Lingen das Gebäude als Lager.
Mit dem harten Winter des Jahres 1985 ging es bereits zuende mit dem nur knapp 50jährigen Gebäude. Die komplette Heizungsanlage wurde zerstört, als Heizungsrohre infolge des Frostes platzten und beinah sämtliche Heizkörper rissen. Die Schäden wurden nicht mehr beseitigt, denn als im Jahr 1986 die Umwidmung der Lokomotivhalle 1 in ein Just-in-time-Zwischenlager für das VW-Werk in Emden vorgenommen wurde, wurde auch das Umfeld der großen Halle neu geordnet. Im Zuge dieser Maßnahmen wurde entschieden, die Lehrwerkstatt abzureißen.
Angesichts des trivialen Architekturstils der Lehrwerkstatt war der Abriss kein großer Verlust, sofern man nicht im zeitgeschichtlichen Kontext und dessen Stilelementen einen gewissen historischen Wert erkennen möchte.
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
Zur Vertiefung des Themas 'Ausbildung im Ausbesserungswerk Lingen' finden Sie hier die persönlichen Erinnerungen des ehemaligen Lehrlings Ewald Kornol:
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