Im ganzen Deutschen Reich schwante spätestens ab dem 1. September 1939 dem aufmerksamen Leser von 'Mein Kampf', woher von nun an der Wind, beziehungsweise Sturm wehen würde.
Die kriegsgerichtete Politik Adolf Hitlers hatte auch im Ausbesserungswerk Lingen bauliche Auswirkungen, denn der Reichsmarschall Hermann Göring, der besenkauend in seinem Bunker saß, konnte das Eindringen von Churchills Bombern in den norddeutschen Luftraum zu seinem Leidwesen doch nicht verhindern.
Auf Anordnung des Reichsverkehrsministeriums wurden im Herbst 1942 innerhalb von vier Wochen etwa 250 Arbeiter des Eisenbahnwerkes Lingen mit Werkstattzügen und reichlicher Ausstattung in das Ausbesserungswerk 'Saporischschja' am Dnepr in der Ukraine verlegt, um den deutschen Vormarsch im Osten zu unterstützen.
Unter großen Anstrengungen gelang eine Weiterführung des Betriebes im Lingener Werk. Wie schon im Ersten Weltkrieg wurden auch Frauen und ausländische Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, Russland, Polen und den Niederlanden herangezogen, um den Betrieb im kriegswichtigen Ausbesserungswerk aufrecht zu erhalten. An ihr Schicksal erinnert heute eine Plastik von Friedrich Kunst vor den Ostgiebeln der Halle 4.
Nach der Niederlage von Stalingrad musste das Werk in Saporischschja aufgegeben werden. Die dort verbliebenen Arbeiter wurden auf andere Werke im Osten verteilt oder wieder in die Heimat geschickt, wo sie oft direkt zur Wehrmacht eingezogen wurden.
Die Gebäudeschäden im Eisenbahnausbesserungswerk Lingen hielten sich zunächst in Grenzen. Zur Verteidigung der Werkanlagen wurden Flakstellungen auf dem Dach der großen Lokomotivhalle 1 & 2 und dem Verwaltungsgebäude eingerichtet. Im 500m südlich gelegenen Wagenwerk stand ein Flakzug bereit.
Doch all das half nichts und bald schon hagelte es Fliegerbomben auf den 'Nationalsozialistischen Musterbetrieb'. Die Luftangriffe des 21. Februar und des 21. November richteten im Werk schwere Zerstörungen an, bei denen drei Werksangehörige und ein 'Ostarbeiter' getötet wurden.
Die Zahl der Toten und Verletzten wäre mit Sicherheit bedeutend höher gewesen, wenn es die Luftschutzeinrichtungen nicht gegeben hätte. Diese wurden zu Beginn der 1940er Jahre an verschiedenen Stellen des Werkes, wo sie schnell erreichbar und dennoch nicht im Weg waren, errichtet. Ob es darüber hinaus noch weitere einfache Luftschutzbunker auf dem Werksgelände gab, ist anzunehmen, lässt sich aber nicht mehr feststellen, denn naturgemäß wurden solche Bauten nicht an die 'große Glocke' gehängt.
Die bis heute auffälligste Anlage dieser Art ist der dunkelgraue zuckerhutartige Winkelturm (Hochbunker der Bauart Winkel benannt nach ihrem Konstrukteur Leo Winkel) auf dem Gelände des ehemaligen Wagenwerks an der heutigen Kurt-Schumacher-Brücke, der im Kapitel 'Winkelturm' gesondert behandelt wird.
Im Hauptwerk an der Kaiserstraße gab es einfache, mit Erde überschüttete Röhrenbunker im Bereich des Hauptwerktores, wo man später die Denkmalslokomotive aufstellte. Ein weiterer lag vor der südlichen Giebelwand der heutigen Halle 3.
Im nördlichen Teil des Werkes befand sich ein massiver Splitterschutzraum, der zwischen der östlichen Giebelseite der Halle 4 direkt hinter der Werkmauer in Höhe der heute noch existierenden Kastanie lag. Es handelte sich um ein halbkellerartiges Bauwerk aus Stahlbeton mit einer Decken- und Wandstärke von 0,6m.
Auf dieser Decke wurde zur Tarnung der Anlage Erde angehäuft und diese wiederum mit Sträuchern bepflanzt.
Beiderseits dieses Bunkers standen einfache Schuppenbauten, die als Sauerstoff-Flaschenlager und Magazin dienten. Südlich schloss sich ein größeres Toilettengebäude mit zehn WCs (zwei Damen, acht Herren) an, das zur Kaiserstraße durch seine dort angebrachte große Werbetafel auffiel, ansonsten aber unter der mächtigen Kastanie kaum bemerkbar war. Daneben befand sich eines der drei großen Werktore.
Mit der Aufgabe der nördlichen Werksflächen wurden diese Bereiche nicht mehr genutzt, was den Bestand stetig verfallen ließ. Der Bewuchs auf der Bunkerdecke wucherte wild vor sich hin und begrub alles unter sich.
Das Innere dieses Bunkers wurde von einer längs verlaufenden Trennwand mit zwei fensterartigen Öffnungen in zwei niedrige Räume aufgeteilt. An beiden Enden befanden sich je zwei Abmauerungen aus Ziegelstein, in denen gasdichte Türen mit Spion eingelassen waren. Daneben lag auf beiden Seiten eine Nische zur Aufnahme der Belüftungsanlage, deren Öffnung an der Werkmauer der Kaiserstraße austrat. An die Gasschleusen schlossen sich einige Betonstufen an, die in einem kleinen Aufbau an die Erdoberfläche beziehungsweise in den nördlich gelegenen Verschlag führten. Einfache Holzgittertüren bildeten den beiderseitigen Eingang.
Beide Räume waren leer und in gutem Zustand, als man im Mai 1991 mit der Räumung des Bewuchses und der Freilegung der Bunkerdecke begann. Im Anschluss wurden mit viel Mühe 360 Bohrlöcher für Sprengladungen gesetzt, mit Ammongelit verfüllt und verstopft. Kurz vor der Sprengung deckte man die Fläche mit dicken Gummimatten zum Schutz der angrenzenden Bebauung ab.
Das Signalhorn des Sprengmeisters Hans Vieth kündigte die Sprengung an und kurz darauf barst die schwere Decke des Luftschutzkeller mit einem dumpf dröhnenden Knall, der das nähere Umfeld erzittern ließ.
Nachdem sich die dünnen Rauchschwaden über den Trümmern verzogen hatten, folgten noch einige kleinere Sprengungen, so dass vom Bunker nur noch Trümmer und ein Gewirr aus Stahlbändern übrig blieben.
Im Juli waren alle Trümmerstücke abtransportiert und die angrenzenden Schuppen und das Toilettenhaus abgerissen worden. Leider fielen auch hier wieder einmal zwei große schöne Bestandsbäume, ein Ahorn und ein alter Birnbaum dem Rundumschlag zum Opfer.
Zum Abschluss der Abrissmaßnahmen wurden die Mauerreste, die parallel zur Straße verliefen, begradigt und im Februar 1992 das Erdloch mit weißem Sand und Mutterboden verfüllt. Die letzten Mauerreste der dortigen Werkgrenze verschwanden erst im Juli 1993.
Im Anschluss begann man hier mit der Anlegung eines Fuß- und Radweges. Beiderseits wurden Linden gepflanzt und der Weg vom Werksgelände durch eine begleitende Buchenhecke getrennt.
Bei den Arbeiten zur Verbreiterung der Kaiserstraße 2007 wurde im Rahmen einer äußerst weitsichtigen Planung ein Teil dieser gerade erst schön angewachsenen teuren und mit Steuergeldern finanzierten Bäume auch schon wieder beseitigt.
Eine weitere, vollständig unterirdische Luftschutzanlage befand sich unter der Einfahrt des Hauptwerktores zwischen Kraftwerk und Waschhaus. Auch dies war ein einfacher Schutzraum mit quadratischem Grundriss und vorgelagerter Gasschleuse.
Sein Zugang lag unter einer ebenerdigen rostigen Stahlplatte, unter der Betonstufen in die Tiefe führten. Ein weiterer senkrechter Zugangsschacht mit Steigeisen befand sich einige Meter daneben.
Im Herbst 1993 legte man diese Zugänge im Anschluss an die Abrissarbeiten rund um das Kraftwerk wieder frei. Kniehoch stand eingesickertes rostiges Grundwasser in dem stockdunklen Kellerraum. Von Metallteilen, den Türrahmen und Lüftungsinstallationen hingen Rostzapfen herab.
Im Zuge der Tiefenenttrümmerung sollte auch dieses Bauwerk weichen. Eine Sprengung wie beim oben genannten Bunker kam hier jedoch wegen seiner Nähe zu den Gasleitungen der Lingener Stadtwerke nicht in Frage. Daher musste die Anlage mit dem Hydraulikhammer aufwendig zertrümmert weden. Der Abriss erfolgte am 10. und 11. Dezember 1993.
Während der Arbeiten kamen auch hier Metallteile wie Schleusentüren und Leitungsstücke wieder ans Tageslicht. Nach dem Abtransport wurde die Grube mit Sand und Mutterboden verfüllt. Eine Wildwieseneinsaat und die Weiterführung des Fuß- und Radweges beendeten die Arbeiten über dem ehemaligen Luftschutzbunker.
Die Luftschutzbauten hatten ihren Zweck erfüllt und viele Menschen vor Bombensplittern geschützt oder sogar ihr Leben gerettet.
Viele andere Werkangehörige, die zur Wehrmacht eingezogen und an den zahlreichen Fronten des Großdeutschen Reiches verheizt wurden, blieb das Glück, weiterleben zu dürfen versagt. Ihnen zum Gedenken wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine weitere Tafel neben die bereits bestehende, die schon am 04. Juli 1936 angebracht worden war, gesetzt.
Sie erinnerte am Haupttor des Werkes, eingelassen in eine Wand des Transformatorenhauses, mit dem Spruch 'Den gefallenen Kameraden' an die Opfer beider Weltkriege, die auch im Lingener Eisenbahnausbesserungswerk zu beklagen waren.
Dass diese - zugegebenermaßen künstlerisch nicht besonders anspruchsvolle - Tafel heute auf irgendeiner Lagerfläche des Lingener Bauhofs verrottet, lässt sich vielleicht mit Angst vor der bösen 'Nazi-Reliquie' und damit verbundener schlechter Presse erklären.
Wenn man allerdings in Betracht zieht, dass bis heute offenkundig nicht im Entferntesten daran gedacht wurde, in diesem fast 160 Jahre alten Lokomotivwerk auch tatsächlich eine Dampflokomotive zu präsentieren und die einzig verbliebene leichthin an einen entfernten Eisenbahn-Fanclub gegeben wurde, dann lässt sich dieses nur mit Ignoranz oder bedauerlichem Desinteresse erklären.
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
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