Achtundzwanzig Jahre nach der Gründung der 'Königlich Preußischen Eisenbahn-Hauptwerkstätte Lingen' benötigte man ein Lagergebäude für Tauschteile. Dafür wurde ein Bauplatz am süd-östlichen Rand des Werkgeländes an der damals noch recht schmalen Kaiserstraße ausgewählt.
So entstand im Jahr 1884 das sogenannte Magazingebäude. Schon damals gab es einige grundsätzliche Anforderungen, die bis heute an ein Lagerhaus gestellt werden: es soll möglichst viel in wirtschaftlicher Weise unterzubringen und in flexibler Weise zu bewegen sein. Es mussten also möglichst große Flächen ohne störende Konstruktionselemente wie Wände und Pfeiler her.
Zu jener Zeit standen glücklicherweise weder Well- und Trapezbleche noch Standard-Stahlbetonstützen zur Verfügung, so dass wir uns auch heute noch an den aufwendig gestalteten Gebäuden jener Zeit erfreuen können (sofern diese nicht wie im vorliegenden Fall leider geschehen vorher einer rigorosen, planlosen Kahlschlagpolitik zum Opfer gefallen sind).
Man errichtete also aus den Baustoffen jener Zeit einen symmetrischen, dreigeschossigen, klar gegliederten Baukörper aus rotbraunen Ziegeln mit Segmentbogenfenstern.
Wie viele derartige Bauwerke im preußischen Einflussbereich wurde auch hier ein solide konstruierter hölzerner Dachstuhl aufgesetzt und mit kostengünstigen, geteerten Dachbahnen abgedeckt.
Die weitgehend flexiblen Lagerflächen erreichte man durch den sparsamen Einsatz von Gusseisensäulen in Keller und oberen Geschossen. Trotz der relativ schmalen Gebäudebreite von etwa fünfzehn Metern konnte man aufgrund der zu erwartenden Belastung durch Ladegut nicht auf diese Stützelemente verzichten. Auch hätten die recht niedrig bemessenen Geschosse mit einer Raumhöhe von etwa drei Metern kein aufwendigeres Tragwerk zugelassen.
Das später zum Waschhaus umgenutzte Magazingebäude bestand aus zwei vollunterkellerten Segmenten, von denen der vordere zwei Fünftel der Länge einnahm und in den Geschosshöhen etwas höher angesetzt war als der Rest des Gebäudes. An der nördlichen Giebelseite befand sich zunächst der Haupteingang mit einer vorgelagerten, zweiläufigen Freitreppe.
Die Gestaltung der Fassade erfolgte durch ein kleinteiliges Friesmotiv, das sich an allen Seiten des Gebäudes entlangzog und an den Giebelseiten in stufenform unter horizontalen Giebelabschlüssen auftrat.
Mit der Verlegung des Hauptwerktores zwischen Kraftwerk und Waschhaus wurde die Freitreppe abgerissen und durch einen ebenerdigen Zugang ausgetauscht, um eine großzügige Verkehrsfläche zu schaffen.
Die ehemalige Eingangstür ersetzte man durch ein großes Fenster und eine Reihe kleinerer Öffnungen im Erdgeschoss, wo zudem die Pförtnerloge für das Werktor eingerichtet und mit neuzeitlichen Fenstern versehen wurde, was dem Gesamteindruck schadete und einen gewissen Nutzflächenverlust im Hochparterre nach sich zog.
Die Gestaltung der Fassaden war symmetrisch angelegt und verfügte stets über die gleiche Zahl von Fensterachsen und Lisenen (senkrechte schmale Mauerwerksbänder zum Zwecke der optischen Flächengliederung).
Das typisches Motiv eines vermauerten Fensters belegte das Bestreben unbedingt eine saubere Symmetrie einzuhalten. Bereits ein paar Jahrzehnte später wäre kaum noch ein Architekt mehr auf die Idee gekommen, nur im Namen einer vollständigen Balance ein völlig nutzloses Fenster 'aufzumalen'.
Die Gebäudeecken betonten die Baumeister mit vertikalen Mauerwerkbändern, die die gesamte horizontale Struktur des Bauwerks harmonisch ausglichen.
Die Kellerräume waren souterrainartig angelegt und verfügten über mehrere Direktzugänge von der werkseitigen Längsfassade. Während diese Räume gewöhnlich zum lagern von Öl und Schmierstoffen genutzt wurden, brachte man hier während des Zweiten Weltkrieges sogar Zwangsarbeiter nach Nationalitäten getrennt unter. Die unterschiedlichen Keller wurden daraufhin als 'Russenkeller' und 'Franzosenkeller' bezeichnet ...
Bedingt durch das stetig steigende Materialaufkommen für den Werksbetrieb wurde das Magazingebäude bald zu klein. Wieviel mehr Platz nun nötig war, zeigt der Umstand, dass man das neue Lager für Betriebsstoffe in die ca. 5.000m² große ehemalige Lokomotivhalle 4 verlegte.
Das freigewordene Magazin wurde nun zum Sozialgebäude umfunktioniert und diente als Waschhaus für Werkangehörige. Die günstige Tragstruktur des Gebäudes begünstigte einen flexiblen Ausbau mit Leichtbauwänden zur Einrichtung von Waschzellen und Sanitäranlagen. In den Kellerräumen wurden nun die notwendigen Heizanlagen und Kessel zur Warmwasserbereitung untergebracht.
Ein kleiner Lüftungsaufbau auf dem Dach sorgte fortan für die Abführung der Wasserdampfschwaden, die mit der neuen Nutzung auftraten.
Der bauliche Zustand des aufgelassenen Gebäudes im Jahr 1991 war gut. Lediglich übliche Alterserscheinungen wie leichte Setzungsrisse und defekte technische Installationen waren zu bemängeln.
Die freie Struktur der Innenräume hätte vielfältige Nutzungen erlaubt.
Dies jedoch stand im März 1992 gar nicht mehr zur Debatte. Zusammen mit dem Verwaltungsgebäude, das zu dieser Zeit von Jugendlichen besetzt worden war, wurde das alte Magazingebäude aus dem Jahr 1884 (weil die Umstände nun gerade so günstig waren) innerhalb weniger Stunden sinnlos zertrümmert.
Die Begründung der Stadtverwaltung lautete, 'damit das Gebäude nicht wieder besetzt wird und ein 'Hafenstraßen-Milieu' entsteht'. Wobei allerdings dieses Haus mit der Besetzung, mit Ausnahme seiner Nachbarschaft zum Verwaltungsgebäude, rein gar nichts zu tun hatte.
Es wäre die Stunde für weitsichtige Denkmalpfleger und Stadtplaner gewesen, dieses Gebäude zu bewahren und ihm eine zeitgemäße Nutzung zu geben. Eine Fachbereichsbücherei oder Mensa für den Fachhochschulstandort Lingen in der benachbarten Halle 1 & 2 waren denkbare Konzepte.
Ein Großteil der verloren gegangenen Anlagen wäre auf diese Weise für die Nachwelt erhalten geblieben. Diese Chancen sind leider vertan worden. Beinah sämtliche historisch gewachsene Bausubstanz beiderseits der Kaiserstraße ist heute verschwunden und die CAD-Animationen der aufgestellten Baustellenschilder lassen Schauriges ahnen. Am Fachhochschulstandort Lingen wird leider (zum Glück?) keine Architektur gelehrt ...
Kaum ein Bürger erinnert sich heute noch an das ehemalige Gesicht des stadtgeschichtlich so wertvollen Eisenbahnwerkes und seiner Bauten.
Viele der auswärtigen Studierenden, die heute auf diesem Gelände ihre Fachbereiche haben, wissen nicht einmal etwas über die Funktion der erhalten gebliebenen Gebäude. Wie sollten sie auch? Nicht eine einzige Dampflokomotive wurde erhalten. Was liegt näher als eine historische Dampflokomotive auf dem Gelände eines ehemaligen Lokomotivwerkes aufzustellen?
Stattdessen wurde das letzte Dampfross ganz nebenbei an einen traditionsbewussten Verein verschenkt - daher die logische Schlussfolgerung: mangelhaftes Geschichtsbewusstsein auf Seiten der Verantwortlichen.
An der Stelle des Waschhauses an der Kaiserstraße legte man nach den Abrissarbeiten eilig einen dringend notwendigen Radweg mit Linden und Buchenhecken an, um der fragwürdigen Aktion einen legitimen Anstrich zu verpassen.
Genutzt wird dieser Radweg kaum aber dafür hat man ihn ja auch nicht angelegt. So klafft also bis in die heutige Zeit eine öde Freifläche mit Parkplätzen am ehemaligen Standort des Magazingebäudes und die vielfältigen Möglichkeiten einer Umnutzung sind auch hier im Staub der Abrissbagger verweht.
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
Sämtliche Texte, Entwürfe, Zeichnungen und Fotos stammen vom Autor und dürfen nur mit dessen Erlaubnis vervielfältigt und veröffentlicht werden.