Zweifellos ist er ein städtebauliches Highlight, der alte Werkswasserturm auf dem Werkhof des AW Lingen. Ein Blickfang, harmonisch proportioniert und ein echter Glanzpunkt neben der Halle 4. Dabei hätte es auch ganz anders kommen können, denn die Verwaltung des Werkes hatte in den letzten Jahren vor der endgültigen Schließung der Werkpforten sogar erwogen, das knapp 19m hohe Bauwerk abzureißen.
Auf dem rund 6.000m² großen Werkhof ist der Wasserturm das einzige größere Gebäude. Er diente der Versorgung der Dampflokomotiven auf der Emslandstrecke. Die angeschlossenen Wasserkrane befanden sich zwischen den Gleisen, dem Turm schräg gegenüber.
Seine starke Wirkung bezieht das Bauwerk neben der Höhe und exponierten Lage aus seiner routiniert angewandten Ebenmäßigkeit.
Genau gegenüber dem Lingener Bahnhof wurde im Jahr 1901 ein Wasserturm errichtet, der dem hier vorgestellten Gebäude sehr ähnlich war. Er verfügte lediglich über ein etwas geringeres Fassungsvermögen als sein Nachfolger, war baulich jedoch identisch.
Mit der Umstellung des Werkes auf die Fließfertigung und dem damit notwendig gewordenen Bau der großen 'Lokrichtehalle' 1 & 2 wurde ein Abriss des damals erst 15 Jahre alten Bauwerkes notwendig. Man errichtete den neuen Werkswasserturm im Jahr 1916 in der nordöstlichen Ecke des Werkgeländes, wo er, wie man wohl annahm, am wenigsten stören und einer weiteren Entwicklung der Werkanlagen nicht im Wege stehen würde.
Über einem massiven, zweigeschossigen Konus aus Ziegelsteinen mit kreisförmigem Grundriss von neun Metern Durchmesser erhebt sich ein stählerner Tankaufsatz von 310m³ Fassungsvermögen, der sich im unteren Viertel verjüngt und oben mit einem runden Zeltdach abschließt.
Dieser genietete Behälter nimmt knapp ein Drittel des gesamten Gebäudes ein, was einer Proportionierung nach dem Goldenen Schnitt entspricht, einem uralten Prinzip, das dem menschlichen Auge Harmonie vermittelt und als wohlgestaltet wahrgenommen wird.
Die technische Bauweise des Wasserturmes bezeichnet man als das Intze-1-Prinzip. Hierbei wird die gesamte auftretende Last des Wasserbehälters durch den Einsatz eines konkaven Tankbodens auf einen Ring, der auf dem gemauerten Gebäudeteil aufliegt, übertragen, so dass nur Druckkräfte auftreten. Auf diese Weise wird der Materialaufwand für den Unterbau derartiger Wassertürme reduziert und die notwendige Mauerstärke gemindert.
In Höhe dieses Auflagerringes zieht sich ein stählerner Wartungssteg mit einem Geländer aus einfachen gebogenen L-Profilen rund um den Behälter. Dieser Steg ist nur vom Halbgeschoss unterhalb des Kessels über eine Stahltreppe zugänglich.
Der konisch geformte tragende Unterbau des Tankaufsatzes besitzt acht Fensterachsen, deren zweireihige Öffnungen mit Rundbögen abschließen. Einzig die Eingangstür ist etwas aus der Wand heraus geschoben und verfügt über einen Segmentbogen mit einem spitzen Giebel, um diesen Bereich zu betonen.
Die Höhe der Geschosse lässt sich von außen an zwei Gesimsbändern ablesen, die den Unterbau horizontal gliedern. Zugleich dient der obere Ziegelfries als Stützkonsole der Wartungssteg-Konstruktion.
Das Dach des Wasserturmes krönt(e) ein kleiner Lüftungsaufbau mit leichtem Dachüberstand, Lamellen und zentriertem Abzug.
Erst im Jahr 1977 wurde auf der Emslandstrecke die Dampftraktion endgültig aufgegeben und der Wasserturm nach 61 Jahren außer Dienst gestellt.
Während des Schließungsprozesses des AW Lingen hatte die Deutsche Bahn zeitweise sogar mit dem Gedanken gespielt, das Gebäude aus Gründen der Arbeitsbeschaffung abzureißen. Dass es nicht soweit kam, ist als großes Glück und Gewinn für das gesamte Stadtbild in diesem Bereich zu werten, denn eine Stadt darf mit derart markanten und historisch bedeutsamen Bauwerken nicht auf diese Weise verfahren, will sie nicht ihre Identität verlieren.
Den Jahren der Nutzung folgten 22 lange Jahre stetigen Verfalls. Die völlig unbrauchbar gewordenen Regenleitungen setzten dem Gebäude eher zu als ihm zu nutzen. Herabfließendes Wasser spülte die Fugen aus, schwärzte das Mauerwerk und verursachte Feuchtigkeit in der Bausubstanz.
Der Tank korrodierte vor sich hin und nach dem Fall der Werksgrenzen wurde der Turm für jeden, der zuviel Zeit hatte, zugänglich.
Mit der Zeit verschwanden sämtliche Fenster, die Tür wurde aufgebrochen und das Inventar sinnlos zerstört. Graffitis verunzierten die Wände und Heerscharen von Tauben bevölkerten das Bauwerk in großer Zahl.
Im Inneren setzte sich der Eindruck des Verfalls fort. Zwei zentrale, gegenläufig positionierte Holztreppen erschlossen die oberen Geschosse. Im Erdgeschoss stand ein verrosteter alter Ofen, verstaubte Baustoffe lagerten hier und die Zu- und Ableitungen des Tanks waren geborsten.
Das Obergeschoss stand leer, im niedrigen Wartungsraum unter dem Kessel befanden sich nur einige alte Gerätschaften, Ventile und Leitungen. Von hier führte eine kurze Treppe auf den Wartungssteg um den Wasserbehälter und eine schmale Stahlleiter hinauf in den Abzug des Tankaufsatzes die den nach oben offenen Behälter zugänglich machte, in den wiederum eine zweite Leiter hinabführte.
Zahlreiche Kadaver von Ratten und Tauben, die den Weg aus dieser Falle nicht mehr gefunden hatten, trieben in einer modrigen Brühe, die noch immer im Kessel stand.
Die halbherzige Bestandsicherung der zuständigen Behörde mittels simpler Vorhängeschlösser und dünner Bretter konnte die Vandalen, die dem Gebäude scheinbar die letzte Ölung zu geben gedachten, kaum aufhalten.
Im Spätsommer 1998 rückte endlich ein Bautrupp an. Der Wasserturm wurde eingerüstet und der obere Teil wegen der Strahlarbeiten zur Entrostung des Wasserbehälters mit einer Plane verhängt.
Das Mauerwerk musste gereinigt und zahlreiche Ziegelsteine ersetzt werden.
Das Dach wurde komplett neu aufgebaut. Dabei ersetzte man den Bitumenbelag durch einen neuzeitlichen Zinkblechbelag, was dem Gebäude optisch nicht gerecht wird. Das originale, dunkle Dach wirkte schwerer, gedämpfter und betonte den oberen Abschluss. Der neue Belag hingegen lässt den Turm kühl und leicht wirken, was im Endeffekt die Wirkung des Gebäudes verfälscht. Diesem Dachbelag nimmt man die Authentizität nicht ab, wobei das doch nun mal das A und O bei Angelegenheiten des Denkmalschutzes ist.
Erfreulicher sind die Ergebnisse bei der Fensterrekonstruktion: Originalgetreu gestaltete Stahlrahmenfenster mit zeitgemäßer Nutzbarkeit und energiesparender Verglasung wurden eingesetzt, der Kessel gereinigt und neu beschichtet. Der Wartungssteg wurde hervorragend neu erstellt und das Mauerwerk zum abschließend neu gefugt.
Gegen Ende der Arbeiten wurde es dann offenbar eilig. Das ursprünglich vorgesehene Konzept kam nur in einer Sparversion zur Umsetzung. Wichtige Details sprechen für halbherzige Ausführung.
So wurden Stahlträger unter den Betondecken - wie überhaupt der gesamte Innenbereich - weiß übergetüncht. So sollte man unterschiedliche Materialien nun wirklich nicht behandeln.
Die weiteren Ausbauarbeiten im Innenbereich sind zufriedenstellend. Die heutige Stahltreppe ist nicht mehr zentriert, sondern verläuft von einem aufgemauerten Unterbau platzsparend parallel zur westlichen Außenwand.
Ärgerlich stimmt leider wieder die Ausführung mancher Rundbögen der Fenster. Einige Mauerer war bei dem Einsatz klassischer Mauertechniken offenbar überfordert - schade!
Die Krönung (im wahrsten Sinne des Wortes) ist allerdings die 'Rekonstruktion' der Belüftungslaterne auf dem Dach.
"Basteln Sie mir mal son sechseckiges Ding aus Blech und mit so Rippen dran zusammen! Irgendwie mit Dach..."
So oder ähnlich darf man sich die Auftragsvergabe an den ausführenden Betrieb wohl vorstellen. Und das kam dann auch zur Ausführung.
Irgendwie mit Dach halt. Aber ohne passende Dachneigung, ohne Dachüberstand, ohne den zentralen Abzug und vor allem ohne einen Funken Liebe zum Detail.
Man muss nicht pedantisch sein, um das plumpe Zinkblechding auf dem Dach als gänzlich misslungen zu empfinden. Es ist eben doch wichtig bei einer Sanierung nicht nur den Bestand insgesamt herauszuputzen, sondern auch einen Gedanken an die, für die Gesamtwirkung so wichtigen Details, die sorgfältig zu rekonstruieren sind, zu verschwenden - wieder schade!
Heute wird der über 105 Jahre alte Werkswasserturm als zusätzlicher Ausstellungsbereich des Kunstvereins genutzt, der sich zu allem Überfluss auch noch genötigt sah, den Wartungssteg mit einer Unzahl angeschraubter Straßenschilder zu verunstalten und ihn so zum Schilderpfosten zu degradieren, während die benachbarte Halle 4 mit roter Neonschrift 'verziert' wurde. Haaallooo! Denkmalschutzbehörde! Ist da eigentlich jemand???
Dipl.-Ing. [FH] Arch. Frank F. A. Drees
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